Prolog

Er wusste, dass er nicht hier sein sollte. Als Mann der Kirche war es ihm nicht gestattet, Zeuge dessen zu werden, was sich in Kürze an diesem Ort ereignen würde. Doch das hatte ihn nicht davon abgehalten, sich hier einzufinden, genauso wenig wie die Gewissheit, dass er das Kommende kaum ertragen würde. Etwas in ihm – er konnte nicht genau sagen, was es war – hatte ihn entgegen jedweder Vernunft hierhergetrieben.

Ein scharfer Wind wirbelte gelbbraune Laubblätter über den festgestampften Erdboden zu seinen Füßen. Pater Lorentz presste sich fester in die Nische hinter dem Strebepfeiler und zog die Kapuze seiner braunen Kutte tiefer ins Gesicht. Er trat von einem Bein aufs andere und rieb sich die Oberarme. Es war nicht nur das unfreundliche Herbstwetter, das ihn frösteln ließ. Seit gut einer Stunde beobachtete er aus seinem Versteck an der Stadtkirche die Vorbereitungen auf dem leicht abschüssigen Platz, der sich vor ihm erstreckte. Von hier oben hatte er trotz der Entfernung eine gute Sicht. Viel zu gut! Der einsame Pfahl, der zwischen frisch aufgeschichteten Holzscheiten und Reisig in die Höhe ragte, war nicht zu übersehen. Ringsherum bildeten bewaffnete Männer einen großen Kreis und hielten all jene, die sich zu weit nach vorne wagten, auf Abstand.

Dahinter, am anderen Ende des Richtplatzes, erhob sich die Mauer der Domburg. Im Nebel zeichneten sich die Umrisse der unvollendeten Kathedrale ab: links die Türme über dem westlichen Eingangsportal, rechts der östliche Chorumgang und in der Lücke dazwischen der gedrungene Rumpf der alten Basilika, die einst dem Lang- und Querhaus würde weichen müssen. Wie konnte die Kirche – seine Kirche – dem Schöpfer zur Ehre etwas derart Prachtvolles erschaffen und gleichzeitig dessen eigenste Schöpfung und Ebenbild mutwillig vernichten?

Nach und nach hatten sich Schaulustige eingefunden: Bürger der Stadt und Bauern aus dem Umland, die am heutigen Sonntag ihre Arbeit ruhen ließen. Es waren mehr Menschen, als der Pater angesichts der verheerenden Seuche, die seit einigen Monaten in der Region wütete, erwartet hatte. Sie standen in Gruppen beieinander und unterhielten sich. Vereinzelt hörte er ein Lachen.

Er verachtete sie. Was trieb sie an, einer Hinrichtung beizuwohnen? Empfanden sie Freude an diesem grausamen Spektakel? Hofften sie auf einen wohligen Schauder, der sie ablenkte von ihrem eigenen Elend und ihrer Trauer? Jeder von ihnen hatte Angehörige, Freunde, geliebte Menschen verloren.

Und was war mit ihm? War seine Anwesenheit nicht genauso verächtlich? Warum war er hier? Aus Anteilnahme? In der Hoffnung auf eine wundersame Rettung im letzten Moment? Weil er nicht glauben konnte, dass das Unvermeidliche tatsächlich geschehen würde, wenn er es nicht mit eigenen Augen sah?

Die schlichte Holztür des Steinhauses, das sich an die Mauer der Domburg schmiegte, flog auf und riss ihn aus seinen Gedanken. Er erkannte den Kirchenvogt an seinem langen, schwarzen Mantel und der dazu passenden Stoffkappe. Ihm folgten die Henkershelfer. Der Pater zuckte zusammen, als er den Mann erblickte, den sie zwischen sich mitschleiften. Trotz der Entfernung sah er ihm das Martyrium deutlich an, das dieser erlitten hatte. Ein kärglicher Kittel hing in schmutzigen Fetzen an ihm herunter. Die nackte Haut, die der Lumpen nur spärlich bedeckte, war von roten Striemen übersät, der Kopf gesenkt, das dunkle Haar strähnig und zerzaust, der Bart ungepflegt und verfilzt. Seine Hände waren hinter dem Rücken zusammengebunden. Die beiden Gehilfen hatten ihn unter den Armen gepackt. Er konnte sich kaum selbst auf den Beinen halten.

Pater Lorentz’ eigene Knie drohten zu versagen. Er klammerte sich an den Strebepfeiler. Der Mann dort unten war nicht wiederzuerkennen. Nichts hatte er gemein mit dem stolzen Burgherrn, der vor zwei Wochen von einem Ausritt auf seine Güter nicht wieder zurückgekehrt war. Stets hatte der Pater ihn gewarnt. Mehrfach hatte er ihn gebeten – nein, angefleht – das unschätzbare Wissen, das ihm zuteilgeworden war, nicht zu seinem alleinigen Vorteil zu nutzen. Der Burgherr war unnachgiebig geblieben: Nur seine eigene Gefolgschaft sollte davon profitieren. Dass dies nicht lange im Verborgenen vonstattengehen würde, hätte ihm klar sein müssen. Es hatte keines Hellsehers bedurft, um vorauszuahnen, dass es den Bischof provozieren würde.

Nein, Pater Lorentz hatte alles in seiner Macht Stehende versucht, um abzuwenden, was sich nun vor seinen Augen abspielte. Dennoch lastete der Anblick wie ein Felsklotz auf ihm, raubte ihm den Atem und drohte ihn zu zerquetschen. Zitternd sah er mit an, wie sich der Burgherr ohne die geringste Gegenwehr in Richtung Scheiterhaufen schleifen ließ. Warum widersetzte er sich nicht? Was hatten sie mit ihm angestellt, dass sein Wille derart gebrochen war? Verzweifelte Wut überkam den Pater. Er wollte schreien, dem Burgherrn etwas zurufen. Wehrt Euch! So tut doch was, irgendwas! Lasst das nicht zu!

Er blieb stumm, klammerte sich an den Strebepfeiler und war verdammt dazu mit anzusehen, was nicht zu ertragen war.

Was war das? Für einen kurzen Augenblick, vollkommen unerwartet, richtete sich der Burgherr ruckartig auf – und mit ihm Pater Lorentz, Hoffnung schöpfend –, um sich im selben Moment mit schmerzverzerrtem Gesicht wieder zusammenzukrümmen. Seine Begleiter warfen sich mürrische Blicke zu und packten ihn umso fester. Zuckend sah er hin und her, die Augen weit, mit einem Ausdruck völliger Orientierungslosigkeit. Und voller Angst! Lorentz sackte erneut zusammen. Es war ausweglos.

Die Gruppe erreichte den Scheiterhaufen. Die Henkersknechte unterdrückten jede weitere Gegenwehr mühelos und banden den Burgherrn mit den Händen im Rücken an den Pfahl. Der Kirchenvogt trat vor. Pater Lorentz wusste, dass nun der Schuldspruch verlesen wurde. Der Wind und die Weite verschluckten fast jedes Wort. Nur vereinzelt drangen Silben bis zu ihm durch, doch was man dem Verurteilten vorwarf, stand außer Frage. Ein Priester löste sich aus der Gruppe und wandte sich an den Burgherrn. Pater Lorentz’ Fingernägel gruben sich fest in seine Handinnenflächen. Den Schmerz nahm er nicht wahr. Erst als der Priester sich wieder abwandte und zügigen Schrittes davoneilte, stöhnte er auf. Der Burgherr hatte nicht widerrufen.

Der Kirchenvogt drehte sich zum Volk. Mit kreischender Stimme, die in des Paters Ohren schrillte, forderte er es zum Hinsehen auf. Er gab dem Henker ein Zeichen. Mit einer Fackel entzündete dieser an mehreren Stellen das Reisig. Seine Gehilfen fachten es mit Blasebälgen an. Schnell krochen die Flammen den Scheiterhaufen empor. Dichter Rauch umhüllte den Burgherrn. Er hustete heftig. Noch durch den Qualm hindurch stand ihm die Todesangst ins Gesicht geschrieben.

Der Pater wollte sich abwenden, aber sein Körper gehorchte ihm nicht mehr, zitterte, erlaubte ihm keine kontrollierte Bewegung. Nur mit aller Kraft gelang es ihm, seinen Kopf zu drehen. Sein Blick fiel auf eine Gestalt oberhalb der Domburgmauer. Trotz der Entfernung und obwohl sie keine Mitra trug, erkannte er sofort den Bischof, auf dessen Lippen er ein zufriedenes Lächeln auszumachen glaubte.

Panisch schossen seine Augen zwischen Bischof und Scheiterhaufen hin und her, um erneut auf Letzterem haften zu bleiben. Im dichten Rauch war der Burgherr kaum noch zu sehen. Die Flammen hatten ihn fast erreicht. Wieder drohten die Beine des Paters nachzugeben, sein Magen verkrampfte sich, seine Brust schnürte sich zu. Ihn überkam ein Würgen. Reflexartig stützte er sich auf seine Knie und übergab sich halb über seine Kutte. Er keuchte. Ein Speichelfaden dehnte sich langsam von seinem Mundwinkel zu Boden. Er würgte erneut. Als alles draußen war, wischte er sich mit seinem Ärmel über den Mund.

Es war ein Fehler gewesen, hierher zu kommen. Er konnte das grausame Schauspiel nicht länger ertragen. Ohne noch einmal aufzublicken, tastete er sich die Kirchenmauer entlang. Er musste weg hier, sofort. Er setzte einen Fuß vor den anderen, richtete sich langsam auf, löste sich von der Wand. Die Aussicht auf Flucht verlieh seinem Körper neue Kraft. Fort, bloß fort! Er stolperte vorwärts, fing sich wieder, erreichte die Ecke der Stadtkirche, lief um sie herum und eilte mit hastigen Schritten davon.

Ein gellender Schrei drang an sein Ohr und ließ das Blut in seinen Adern stocken. Nicht einmal im Ansatz vermochte er sich die Schmerzen auszumalen, die der Burgherr erlitt, nun, da die Flammen ihn ergriffen. Er drehte sich nicht um, raffte seine Kutte, lief schneller und schneller, rannte. Tränen stiegen ihm in die Augen und strömten über seine Wangen. Er bekreuzigte sich, ohne anzuhalten. Der Burgherr starb. Er starb den grausamsten Tod, den es zu sterben gab.

Mochte der Herr seiner Seele gnädig sein.

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