Fabian Holthausen seufzte. Er löste seinen Blick von der Silberlinde im Hof, die seit einigen Tagen in goldgelber Blüte stand, und ging zurück zu seinem Schreibtisch, an dem eine seiner Studentinnen auf einem der Besucherstühle Platz genommen hatte. Unter Einsatz ihres gesamten weiblichen Charmes versuchte sie seit mehreren Minuten, ihn davon zu überzeugen, dass die Beurteilung ihrer Seminararbeit – er hatte sie trotz allen guten Willens durchfallen lassen müssen – doch etwas hart gewesen sei.
Vor sechs Jahren hatte er als Mittdreißiger den Lehrstuhl für spätmittelalterliche Geschichte übernommen und gehörte damit zu den Jüngeren der Berliner Professorenschaft. Es war keineswegs so, dass einige erfahrenere Kollegen ihn nicht vorgewarnt hätten, doch hatte er nicht wirklich geglaubt, etwas Derartiges eines Tages tatsächlich zu erleben.
Und nun saß sie da mit ihrem kurzen Jeansrock, der ihre langen Beine – äußerst attraktive Beine, wie er zugeben musste – sehr gut zur Geltung brachte. Mit einem Augenaufschlag blickte sie zu ihm herauf und kräuselte leicht ihre Lippen. Sie beugte sich ein wenig vor und gewährte ihm Einblick in ihren großzügigen Ausschnitt. Ihre Oberweite, vermutlich von einem Push-up-BH in Form gebracht, wurde durch ihr enges T-Shirt zusätzlich betont. Die blauen, dünnen Querstreifen ihres Oberteils erinnerten ihn unwillkürlich an die Höhenlinien einer topografischen Karte, die das dargestellte Gelände besonders plastisch wirken ließen.
Er fuhr sich durch die Strähnen seines welligen Haars und bemühte sich, ausschließlich ihr Gesicht zu fokussieren, während er sich auf seinem Schreibtischstuhl niederließ.
»Hören Sie, Yvonne …«
»Yvette!«, unterbrach sie ihn und verstärkte ihren etwas übertriebenen Schmollmund.
»Yvette, ich kann Sie mit dieser Arbeit nicht bestehen lassen, nur weil Sie mich nett anlächeln.«
»Wer sagt denn, dass Sie nur ein Lächeln von mir erwarten können?«, entgegnete sie kokett.
Holthausen war sprachlos. Unkontrolliert rutschte sein Blick wieder nach unten, was sie mit einem Zwinkern quittierte. Schnell hob er die Augen. Noch bevor er etwas erwidern konnte, flog ohne Vorankündigung die Bürotür auf und seine Tochter Sophie spazierte herein.
»Hi Daddy!«, rief sie und hielt kurz inne, als sie Yvette erblickte, die sich abrupt zurücklehnte und ihren Ausschnitt hochzog. Mit einem Grinsen ließ sich Sophie auf den zweiten Besucherstuhl plumpsen, warf ihre Tasche auf den Boden und wandte sich unverblümt an die Studentin.
»Ist ein attraktiver Kerl, mein Vater, nicht wahr? Groß, schlank, blaue Augen, dunkelbraunes, volles Haar! Kann schon verstehen, dass er dir gefällt. Und ich hätte ehrlich gesagt auch nichts dagegen, wenn mal wieder eine Frau im Haus wäre. Ist schon echt lange her.«
Irritiert blickte Yvette zwischen Sophie und Holthausen hin und her.
»Es ist wohl besser, wenn Sie jetzt gehen, Yvette«, schloss dieser das Gespräch. »Natürlich können Sie die Seminararbeit im kommenden Semester gerne wiederholen.«
Wortlos packte sie ihre Unterlagen zusammen und verließ das Büro mit einer knappen Verabschiedung. Als sich die Tür hinter ihr schloss, prustete Sophie lauthals los.
»Was war das denn eben, Daddy? Da bin ich wohl gerade noch rechtzeitig reingeschneit, um Schlimmeres zu verhindern, was?«
»Ich hatte die Situation sehr gut im Griff, danke. Du hast das Ganze höchstens ein wenig abgekürzt.«
Er musterte seine Tochter, die mit ihren inzwischen 15 Jahren zu einem bildhübschen Teenager herangewachsen war. Ihre Kleidung war sehr zu seiner Freude wesentlich legerer als Yvettes figurbetonte Aufmachung, wenngleich er mit den zerrissenen Jeans wenig anfangen konnte. Das einst runde Kindergesicht ließ sich nur noch ansatzweise erahnen. Mit ihren kastanienbraunen Haaren, die sie als modische Bobfrisur trug, und den grünen Augen ähnelte sie ihrer Mutter, an die er jedoch nicht die besten Erinnerungen hatte. Seine Tochter dagegen liebte er über alles und er war froh, dass sie so gut miteinander zurechtkamen. Natürlich gab es seit dem Beginn ihrer Pubertät immer mal wieder Auseinandersetzungen auszufechten, doch er gab sich Mühe, ein toleranter und nicht zu strenger Vater zu sein, und war der Ansicht, dass ihm das auch ganz gut gelang.
»Müsstest du nicht in der Schule sein?«, fragte er, während er eines der beiden Käsesandwichs, die er in der Mensa gekauft hatte, aus einer Papiertüte zog.
»Ferien?« Sie verdrehte die Augen.
Richtig, wie hatte er das nur wieder vergessen können? Dabei hatte sie erst vor zwei Tagen ihr Zeugnis mit nach Hause gebracht. Er nickte schuldbewusst.
»Willst du auch eins?« Fragend hielt er ihr die Tüte mit dem zweiten Sandwich entgegen.
»Ach Daddy, wann merkst du dir denn endlich, dass ich vegan lebe?«
Noch so eine Sache neben Löchern in der Jeans, die Holthausen nicht verstand. Seit einem knappen Jahr aß sie keine tierischen Produkte mehr. Vegetarisch, das konnte er noch irgendwie nachvollziehen, aber vegan? Dennoch bewunderte er sie für die Konsequenz, mit der sie ihre Entscheidung seitdem durchzog.
»Ist Johanna da? Ihre Bürotür war zu, als ich eben zu dir gekommen bin.«
Johanna Maiwald war seine Mitarbeiterin und Doktorandin. Während ihres Studiums war ihm ihre besondere Begabung aufgefallen, in mittelalterlichen Quellen bedeutsame Fundstellen aufzuspüren und sie sorgfältig und unvoreingenommen zu analysieren. Nach ihrem Studienabschluss hatte er ihr eine Promotionsstelle angeboten und sie hatte sich sofort mit Eifer in ihre Forschung gestürzt.
»Johanna ist auf einer Tagung in Erfurt und besucht anschließend die Bibliothek in Wolfenbüttel. Sie kommt erst Mitte nächster Woche zurück.«
Holthausen sah seiner Tochter ihre Enttäuschung an. Sie und Johanna verstanden sich bestens.
»Auch gut!«, sagte sie. »Sag mal, spricht etwas dagegen, dass ich heute bei Svenja übernachte? Sie gibt eine Party und ich will danach nicht noch nach Hause laufen müssen.«
»Kommen da auch Jungs?«
Sie hob eine Augenbraue und sah ihn amüsiert an. »Was wäre das denn für ’ne Party, wenn keine Jungs da wären? Mensch Daddy, ist wohl schon ’ne Weile her, dass du mal feiern warst.«
»Na schön!«, willigte er ein. Das bedeutete für ihn einen ruhigen Freitagabend allein zu Hause. »Aber Finger weg vom Alkohol!«
»Bist ein Schatz, Daddy!«, freute sie sich. Sie stand auf, beugte sich über den Schreibtisch und drückte ihm einen Kuss auf die Stirn. Dann hob sie ihre Tasche auf, kramte einen Apfel hervor und legte ihn neben die mittlerweile von mehreren Fettflecken durchtränkte Papiertüte mit dem verbliebenen Käsesandwich. »Iss lieber den hier, ist gesünder.« Sie zwinkerte ihm zu und verschwand genauso schnell wieder aus seinem Büro, wie sie gekommen war.
Holthausen besann sich einen Moment lang und klappte seinen Laptop auf, der leise surrend aus dem Ruhemodus erwachte. Kurz vor ihrer Abreise hatte Johanna ihm ein Manuskript für einen wissenschaftlichen Artikel gemailt. Er suchte die Nachricht in seinem E-Mail-Programm und öffnete den Anhang.
Einige Monate zuvor hatten sie gemeinsam erste Erkenntnisse ihrer jüngsten Forschungsarbeit in der historischen Fachzeitschrift Nuntia mediaevalia veröffentlicht. Inzwischen hatte Johanna weitere Details herausgefunden. Ihre Entdeckung war schlicht und ergreifend unglaublich. Auf der Tagung, an der sie teilnahm, würde sie einen Vortrag darüber halten und er war sich sicher, dass dieser einschlagen würde wie eine Bombe.
Holthausen versank in der Lektüre des Manuskripts. Er schreckte hoch, als etwa zehn Minuten später das Telefon auf seinem Schreibtisch klingelte.
»Hier ist ein Herr, der Sie unbedingt sprechen möchte«, sagte seine Sekretärin am anderen Ende der Leitung. Ihre Stimme klang hörbar verzweifelt.
»Hat er seinen Namen genannt und verraten, worum es geht?«
»Weder noch! Er behauptet, ausschließlich mit Ihnen persönlich über sein Anliegen sprechen zu können.«
»Dann teilen Sie ihm bitte mit, dass ich beschäftigt bin. Er soll sagen, was er will, und einen Termin vereinbaren.«
Holthausen war im Begriff aufzulegen, führte den Hörer jedoch wieder zurück an sein Ohr, als er bemerkte, dass seine Sekretärin weitersprach.
»Er ist wirklich sehr hartnäckig und lässt sich nicht abwimmeln, ich habe schon alles versucht«, wisperte sie. Es klang, als schirme sie mit ihrer Hand den Hörer ab.
Holthausen überlegte kurz. Ihm stand nicht der Sinn nach einem unangemeldeten Besucher, der noch dazu sein Anliegen nicht preisgeben wollte. Aber anscheinend war nicht zu erwarten, dass diese Person verschwand, ohne mit ihm gesprochen zu haben.
»Also gut, lassen Sie ihn reinkommen. Ich werde versuchen, ihn schnell wieder abzuwimmeln.«
Wenige Augenblicke später klopfte es an der Tür und ein Mann trat ein, schlank und von großer Statur, mit kurz geschorenen dunklen Haaren, die erste Anzeichen von Grautönen aufwiesen. Er trug einen anthrazitfarbenen Maßanzug aus einem eindeutig hochwertigen Stoff. Schurwolle mit Kaschmiranteil oder etwas in der Art. Vielleicht war auch ein bisschen Seide beigemischt, denn der Anzug schimmerte dezent. Das Büro füllte sich mit dem holzig-würzigen Geruch eines mutmaßlich teuren Männerparfüms.
»Guten Tag, Professor Holthausen! Schneider mein Name!« Der Mann streckte ihm über den Schreibtisch hinweg die Hand entgegen. »Danke, dass Sie mich auch ohne Voranmeldung empfangen.« Er setzte ein breites Lächeln auf, wie man es in einem Verkaufsseminar für Versicherungsvertreter nicht besser hätte lernen können.
»Sie haben meiner Sekretärin anscheinend gar keine andere Wahl gelassen«, entgegnete Holthausen und bemühte sich nur halbherzig, seinen Unmut zu verbergen. Dennoch erwiderte er den Handschlag. »Nehmen Sie bitte Platz! Was kann ich für Sie tun?«
Der Mann setzte sich, schlug die Beine übereinander und umfasste sein Knie mit beiden Händen.
»Gut, kommen wir also gleich zur Sache. Sie sind ein Experte auf dem Gebiet der spätmittelalterlichen Forschung und kennen sich bestens aus mit den Umständen und Gepflogenheiten dieser Epoche.«
»Wie die meisten meiner Kollegen, die auf diesem Gebiet tätig sind. Was führt Sie ausgerechnet zu mir?«
»Sie können die mittelniederdeutsche Sprache nicht nur flüssig lesen, sondern genauso gut sprechen, wie man hört.«
»Das mag sein. Für mittelalterliche Ohren dürfte meine Aussprache allerdings nicht ganz akzentfrei sein. Und natürlich gab es viele regionale Unterschiede.« Holthausen fragte sich, wohin dieses Gespräch führen sollte.
»Seien Sie nicht so bescheiden, Professor Holthausen. Ich bin mir sicher, dass Sie meinem Auftraggeber mit Ihrer Expertise wertvolle Dienste leisten können.«
Holthausen sah den Mann fragend an. »Ihr Auftraggeber? Das klingt ja recht ominös. In wessen Namen sind Sie denn hier, wenn ich fragen darf?«
»Natürlich dürfen Sie! Ich bitte aber um Verständnis, dass ich Ihnen zum gegenwärtigen Zeitpunkt darüber keine Auskunft geben kann. Zunächst möchten wir Ihre generelle Bereitschaft zur Zusammenarbeit erfragen. Für weitere Details muss ich Sie um die Unterzeichnung einer Verschwiegenheitserklärung bitten. Aber so viel kann ich Ihnen schon verraten: Sie würden nicht nur meinem Auftraggeber, sondern der gesamten Menschheit einen großen Dienst erweisen.«
Holthausen lachte auf. »Finden Sie das nicht ein bisschen zu dick aufgetragen? Ich bin Geschichtsprofessor, nicht der Retter der Welt!«
Unbeirrt fuhr der Mann fort. »Ihre Mitarbeit wird leider nicht ganz ungefährlich sein, wie ich einräumen muss. Selbstverständlich wird mein Auftraggeber Ihre Dienste angemessen vergüten.«
Holthausen entschied sich, auf die angedeuteten Risiken zunächst nicht einzugehen. »Und von welchem Betrag genau sprechen wir hier?«, fragte er stattdessen.
Ein kurzes Lächeln huschte über das Gesicht des Mannes, als habe er geahnt, Holthausens Neugier mit dieser Bemerkung doch noch wecken zu können. Ohne zu fragen, riss er einen Zettel von einem Notizblock auf Holthausens Schreibtisch ab, nahm einen Kugelschreiber aus der Stiftablage und notierte etwas. Dann drehte er den Zettel um und schob ihn zu Holthausen hinüber.
»Fünf Nullen?« Holthausen wusste nicht, was das bedeuten sollte.
»Ergänzen Sie die fehlende Ziffer davor nach Ihrem Belieben. Mein Auftraggeber weiß Ihr Engagement sehr zu schätzen.«
Holthausen ließ einen Luftstoß zwischen seinen Lippen entweichen. »Wenn ich eine Fünf davorsetze, zahlt mir Ihr Auftraggeber 500.000 Euro?«
Der Mann nickte.
»Und wenn ich eine Neun davorsetze?« Holthausen starrte den Mann ungläubig an.
»Setzen Sie eine Zehn davor, wenn Sie wollen. Ihre Expertise ist es wert.«
Holthausen schnappte nach Luft. Er brauchte einen Moment, bis er sich wieder halbwegs gefasst hatte.
»Hören Sie, Herr Schneider, oder wie auch immer Sie heißen. Das ist heute schon das zweite unmoralische Angebot, das ich erhalte, und genau wie das erste lehne ich es ab. Sie tauchen unangemeldet hier auf, machen lediglich vage Andeutungen und bieten mir eine exorbitante Summe, so dass ich davon ausgehen muss, dass mit Ihnen und Ihrem Auftraggeber etwas schwer im Argen liegt. Ich muss Sie daher nun bitten, mein Büro zu verlassen.«
»Seien Sie nicht zu voreilig, Professor Holthausen. Überlegen Sie mal, was Sie sich und Ihrer Tochter mit diesem Geld alles ermöglichen können.«
»Bisher war meine Professorenbesoldung vollkommen ausreichend und das wird sie auch in Zukunft sein. Und jetzt gehen Sie bitte!«
Der Mann machte keinerlei Anstalten, sich von seinem Stuhl zu erheben. Holthausen nahm den Telefonhörer und wählte die Durchwahl seiner Sekretärin. Noch bevor sie abnehmen und er sie darum bitten konnte, die Polizei zu rufen, erhob sich der Mann und legte den Finger auf die Gabel.
»Sie machen einen Fehler, Professor. Das könnten Sie bald bereuen.«
»Ist das eine Drohung?«, fragte Holthausen bebend und erhob sich ebenfalls, den Hörer weiterhin in der Hand haltend.
»Nennen wir es einen freundschaftlichen Rat.«
»Auf Ihre Freundschaft kann ich gut und gerne verzichten. Und jetzt fordere ich Sie ein letztes Mal auf zu gehen.«
Der Mann deutete zum Abschied ein leichtes Nicken an und verließ ohne ein weiteres Wort das Büro.
Holthausen sank auf seinen Stuhl zurück und atmete tief durch. Aus dem Hörer, den er nach wie vor umklammerte, ertönte leise der Wählton. Er legte auf und stellte fest, dass seine Hand zitterte.
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